Z e i t b e w u s s t s e i n ============================= Vorlesung Wintersemester 2012-13 Achim Feldmeier Universitaet Potsdam 1. Stunde. 18.10.12. Uebersicht ueber die Vorlesung =================================================== Philosophie ----------- Augustinus: Bekenntnisse, Buch XI Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft Kant I: Kritik der reinen Vernunft Transzendentale Aesthetik Kant II: Kritik der reinen Vernunft Kosmische Antinomien Hegel: Wissenschaft der Logik I Kritik an Kant Husserl: Phaenomenologie des inneren Zeitbewusstseins Heidegger: Sein und Zeit Bergson: Materie und Gedaechtnis Mensch ist frei-willig bereit zur Langeweile der Erinnerung Mathematik ---------- Zeit, Iteration, Evolution: Typen partieller Differentialgleichungen Konvergenz zu einer stationaeren Loesung Phasenraumattraktoren Bifurkation und Chaor Relativitaetstheorie: Minkowskiraum Kausalitaet und Greenfunktion Diracs Raum <-> Zeit Argument am Schwarzloch-Horizont Verlust kausalen Kontakts durch Ausdehung des Universums Mechanik vs. Thermodynamik Satz von Liouville und Poincarescher Wiederkehrsatz Boltzmanngleichung und BBGKY-Hierarchie Markovketten und Entropiezuwachs Theorie der Ordnungsrelationen Ordnung = lineare Folge von Neumann-Darstellung; Limeszahlen Ordinalzahlen: kann man bis Unendlich zaehlen? Goedel-Turing-Church Konstruktivisten: kein tertium non datur Entscheidungsproblem: wie arbeitet man unendliche Menge ab? Post: Orakelmengen Computer Turingmaschine als Modell der Intelligenz LISP: (in der Zeit) Lernfaehige Maschinen Rabin-Scott-Sheperdson: 1- and 2-way automata Modallogik das Moegliche das, was entdeckt werden wird: kuenftige Wahrheiten --------------------- Aspekte der Zeitfrage --------------------- 1. Eindimensionalitaet Physik kennt Zeit nur als Parameter, auch in Minkowskigeometrie immerhin Dirac: Raum wird Zeit am Horizont eines Schwarzen Lochs Kant: Zeit ist ein reines Ordnungsprinzip Sie ist Voraussetzung a priori fuer Erfahrung 2. Sein und Zeit Alte Griechen, Augustinus, Heidegger sagen: Die Zeitfrage ist die Seinsfrage Also voraussichtlich erschlagend kompliziert 3. Iterativer Aspekt hyperbolische Differentialgleichungen Evolution zu komplexeren Lebensformen und Prozessen Prozesse, Algorithmen, Turingmaschine 4. Aus dem Unendlichen ins Unendliche Kants kosmologische Antinomie vs. Cantors Zaehlen ins Unendliche: Ordinalzahlen 5. Einseitige Gerichtetheit Newtonsche Mechanik vs. Boltzmannsches H-Theorem Markovketten und Ergodizitaet 6. Erinnerung und Gedaechtnis Bergson: Mensch ertraegt Langeweile der Erinnerung; gewinnt Zeitbewusstsein Rabin und Scott: 1-Weg-Automaten koennen dasselbe wie 2-Weg-Automaten 7. Das Moegliche und das Wirkliche Aristoteles: Akt und Potenz, Notwendigkeit und Kontingenz Eine Deutung der Modallogik: das kuenftig Gewusste Damit erstmals ein echter (logischer) Zeitpfeil in der Mathematik 2. Stunde. 25.10.12. Buch XI der Bekenntnisse von Augustinus ============================================================ `Aber auf welche Weise sind denn diese beiden Zeiten, die Vergangenheit und die Zukunft, wenn doch das Vergangene schon nicht mehr und das Zukuenftige noch nicht ist? Eine Gegenwart aber, die immer gegenwaertig bliebe und nicht ueberginge in die Vergangenheit, waere nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit. Wenn also die Gegenwart nur dadurch Zeit ist, dass sie in die Vergangenheit uebergeht, wie koennen wir von ihr sagen, sie sei, wo doch der Grund ihres Seins der ist, dass sie nicht sein wird? So koennen wir in Wahrheit von der Zeit nur sagen, sie sei, weil sie zum Nichtsein uebergeht.' (Reclam S. 314) Der Zeitbegriff wird bei A. also an den Seinsbegriff geknuepft. Und damit Teil des schwierigstes Begriffs. Ist dies griechische Tradition? Reicht nicht auch weniger aus? Vielleicht im Sinne von "Zeit ist Bewegung"? Doch noch Heidegger knuepft Zeit an Sein: Der Titel seines Hauptwerks lautet `Sein und Zeit'. Ueberhaupt unterscheidet die Philosophiegeschichte zwischen zwei Extrempositionen: Parmenides: Sein ist. Heraklit: Sein ist Veraenderung. Hegel umfasst beide: Sein ist der tiefste philosophische Begriff - wie bei Parmenides Und Sein ist immer historisches Sein - also zeitlich und veraenderlich Nur die Gegenwart existiert, und hat keine Ausdehung: `Wir messen auch, um wieviel die eine Zeitspanne laenger oder kuerzer ist als die andere, und sagen, diese sei doppelt oder dreifach so lang, jene sei einfach oder beide seien gleich. Aber wir messen die voruebergleitenden Zeitraeume, indem wir sie aufgrund von Wahrnehmung messen. Doch wer koennte die vergangenen messen, die nicht mehr sind, oder die zukuenftigen, die noch nicht sind? Hat jemand den Mut zu sagen, er koennte etwas messen, das nicht ist?' (Reclam S. 317) Augustinus als Sprachphilosoph: XX.26 `In strengem Sinne muesste man wohl sagen: Es gibt drei Zeiten, eine Gegenwart von Vergangenem, eine Gegenwart von Gegenwaertigem und eine Gegenwart von Zukuenftigem. Diese drei sind naemlich in der Seel wirklich vorhanden...: gegenwaertige Erinnerung an Vergangenes, gegenwaertiges Anschauen von Gegenwaertigem, gegenwaertige Erwartung von Zukuenftigem... Dann mag auch jemand sagen: Es gibt drei Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft... Ich mache kein Wesens daraus... solange man nur einsieht, was man da sagt, naemlich dass weder das Zukuenftige noch das Vergangene existiert.' (Reclam S. 320) Das Kernargument: XXI.27. `Also wir messen... die Zeiten, wenn sie ablaufen. Ich weiss es, weil wir messen und weil wir nicht messen koennen, was nicht existiert. Vergangens und Zukuenftiges existiert aber nicht. Aber wie messen wir die gegenwaertige Zeit, wenn sie doch keine Ausdehnung hat? Wir messen sie also, waehrend sie vorbeigeht; ist sie vorbeigegangen, wird sie nicht mehr gemessen, denn dann gibt es nichts mehr, was man messen koennte. Aber woher und wohindurch und wohin geht sie vorbei, waehrend sie gemessen wird? Woher? Aus der Zukunft. Wohindurch? Durch die Gegenwart! Wohin? In die Vergangenheit. Von dem her also, das noch nicht ist, durch das hindurch, das keine Ausdehnung hat, in das hinein, was schon nicht mehr ist. Aber wass messen wir anderes als die Zeit in einem bestimmten Zeitraum? Denn wir bezeichnen doch immer Zeitraeume, wenn wir von einer einfachen, einer doppelt oder dreimal so langen ... Zeit sprechen. In welchem Raum messen wir also die vorbeigehende Zeit? Von der Zukunft aus, von der her sie vorbeigeht? Aber wir koennen nicht messen, was noch nicht ist. In der Gegenwart, durch die sie hindurchgeht? Aber wir koennen nicht messen, was keine Ausdehung hat. In der Vergangenheit, wohin sie vorbeigeht? Aber wir koennen nicht messen, was nicht mehr ist.' (Reclam S. 320, 321) Nochmals dasselbe: `Ich messe nicht die Zukunft, weil sie noch nicht ist, ich messe nicht die Gegenwart, weil sie sich ueber keine Dauer ausdehnt, und ich messe auch nicht die Vergangenheit, weil sie nicht mehr ist. Was also messe ich?' (Reclam S. 326) Und nochmal: `Und trotzdem messen wir Zeitraeume - aber weder die, die noch nicht sind, noch die, die nicht mehr sind, noch die, die sich ueber keine Dauer erstrecken, noch die, die keine Endpunkte haben. Wir messen also weder kuenftige noch vergangene, noch gegewaertige, noch gerade voruebergehende Zeitspannen, und trotzdem messen wir Zeitspannen.' (Reclam S. 327) Loesung des Problems: `Nicht also sie selbst, die nicht mehr sind, sondern irgend etwas in meinem Gedaechtnis, das ihm eingepraegt bleibt, messe ich.' (S. 328) `Zweifellos existiert Zukuenftiges noch nicht, aber im Geist existiert die Erwartung zukuenftiger Dinge. Zweifellos existiert das Vergangene nicht mehr, aber im Geist existiert noch die Erinnerung ans Vergangene. Zweifellos fehlt der Gegenwart jede Ausdehung, da sie im Augenblick vorbeigeht, aber was Dauer behaelt, ist die Aufmerksamkeit, durch die hindurch das Kommende uebergeht ins Gewesene. Also ist nicht die zukuenftige Zeit lang, da sie noch nicht ist, sondern eine lange Zukunft ist eine lange Erwartung des Kuenftigen.' (S. 329, 330) `Gegenwaertig ist nur meine Aufmerksamkeit, durch die hindurch das, was zukuenftig war, in die Vergangenheit hinueberlaeuft.' (S. 330) Und schliesslich die christliche Loesung: `Mein Leben ist Zerspaltung. Doch fing dein Arm mich auf, in meinem Herrn, dem Menschensohn, der vermittelt zwischen deiner Einheit und unserer Vielheit ..., so dass ich frei werde vom Vergangenen und dem Einen folge, das Gewesene vergesse und mich nicht im Blick auf das zukuenftig Vergaengliche zerspalte, sondern mich ausstrecke (non distentus, sed extentus) nach dem, was vorher ist, so dass ich nicht in Aufspaltung, sondern als Folge einheitlicher Lebensrichtug die ... hoehere Bestimung ergreife... Ich hingegen... zerrinne in den Zeitraeumen, deren Abfolge ich nicht kenne. Meine Gedanken ... werden zerfetzt vom Aufruhr der Mannigfaltigkeiten - bis mein Lebensstrom gereinigt in dir zusammfliesst, fluessig geworden im Feuer deiner Liebe.' (S. 330, 331) Zusammenfassende Wuerdigung von Augustinus: ------------------------------------------- -- Vergangenheit und Zukunft "sind" nicht, weil sei schon vorbei und noch nicht da sind. -- Die Gegenwart ist gleich aus zwei Gruenden nicht: - Sie ist ein ausdehnungsloser Punkt, kein Zeitraum - Ihr Wesen ist der Uebergang in die Vergangenheit, also ihre Aufloesung, also "ist" sie nicht. -- Der Wendepunkt in der Argumentation beginnt mit einer Sprachkritik: Man spricht zwar von Vergangenheit, meint aber die Gegenwaertigkeit des Vergangenen. Und ganz entsprechend mit der Zukunft. -- Wir messen also als Zeitspannen der Erinnerung und Erwartung im menschlichen Geist. Zeitspannen sind/existieren nur im Geist. -- Gott schliesslich ist die alles umfassende Zeitspanne. -- Also: Natur kennt keine Zeit (Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart sind nicht). Der menschliche Geist kennt Zeitspannen, ist aber zerronnen. Gott umfasst die ganze Zeit als Einheit. -- Eine erstaunliche Tatsache im Text ist das ploetzliche Auftauchen eines ganz neuen Begriffs an der zentralen Stelle, WIE ausgedehnte Zeit und damit Zeit ueberhaupt entsteht: - Naemlich indem das Kommende uebergeht ins Gewesene durch die Aufmerksamkeit hindurch. - Erst durch die Aufmerksamkeit entsteht ein `hindurch' und damit Kontinuitaet und Ausdehnung, also Zeit. - Aufmerksamkeit ist der heute in der Philosophie so zentrale Begriff der Intentionalitaet oder Aboutness oder Gerichtetheit-auf. Die verbleibende Vorlesungszeit diente auch der Diskussion ueber drei Themen: 1. Wie sehr ist jede Zergliederung -- so bei der Augustinschen Gegenwart als Punkt; oder beim Paradoxon von Achilles und der Schildkroete) an das "echte" Kontinuum der reellen Zahlen geknuepft? Zur Erinnerung: die Folge 1, 1/10, 1/100, 1/1000, 1/10000 besteht aus lauter rationalen Zahlen, und wird erst durch den Limesprozess zur reellen Zahl: 1, 1/10, 1/100, 1/1000, 1/10000, ... Dies ist die bekannte Folgendarstellung reeller Zahlen durch Cauchy. Ein Grenzprozess (Differentialquotient) in der Mathematik setzt die reellen Zahlen voraus und ist mit rationalen Zahlen nicht machbar. Obwohl immer rationale Zahlen dastehen. Aber eben der Grenzprozess gedacht und gemacht werden muss. 2. Wieviel hat die oft genannte Vorstellung, die Welt sei die Geometrie des xyzt-4-Raums mit unserer Zeit_vorstellung_ zu tun. Der Eindruck ist: sehr wenig. Die Zwanghaftigkeit des Vergehens von Zeit ist hier ueberhaupt nicht erfasst. 3. Die Augustinsche Vorstellung einer punktuellen Gegenwart scheint diametral entgegengesetzt der Newtonschen Vorstellung von Fluxionen. In letzterer wird der Punkt geradezu als das definiert, was durch Bewegung die Linie erzeugen kann. Die Linie als das, was durch Bewegung die Flaeche erzeugen kann. Diese Vorstellung scheint Augustinus ganz fremd zu sein. Oder problematisiert er sie ehrlicher- weise nur mehr wie Newton, der sie schlicht voraussetzt? Indem Augustinus "aufzeigt", WIE der Punkt zur Linie werden kann: durch ein "hindurch" dank ... der Aufmerksamkeit. 3. und 4. Stunde am 1. und 8.11.12. Der Zeitpfeil nach Boltzmann ================================================================ Die Boltzmanngleichung ist die einzige fundamentale Gleichung der Physik, aus der sich eine bevorzugte Zeitrichtung in der Natur ergibt: nach dem H-Theorem wird der Wert der H-Funktion im Lauf der Zeit immer kleiner. Heute sagt man: die Entropie waechst. Wir wollen im folgenden zeigen, wie Boltzmann durch die Annahme des molekularen Chaos die klassische Mechanik verlaesst und sich direkt aus dieser Annahme der Zeitpfeil ergibt. Macht man die Annahme nicht, erhaelt man statt der Boltzmanngleichung die BBGKY-Hierarchie. Diese zeigt Zeitumkehrinvarianz und ist aequivalent zum Liouvilleschen Satz der Mechanik. Die Boltzmanngleichung ist die erste Gleichung der unendlichen BBGKY-Gleichungskette. Der Entropie- zuwachs hat hier also seine Shannonsche Analogie zum Informations- verlust: man hat unendlich viele Gleichungen vernachlaessigt. Wichtig ist, dass die allgmeine statistische Beschreibung (nach BBGKY) einer deterministischen Realitaet noch die volle mechanische Zeitumkehrinvarianz zeigt. Es ist nicht die Statistik per se, die den Zeitpfeil bewirkt; die Wahrscheinlichkeiten sind noch bedingte, und spiegeln die rigiden Naturgesetze ab. Erst indem Boltzmann unabhaengige Wahrscheinlichkeitsverteilungen postuliert, also die Annahme von Chaos macht, wird Zeitumkehrinvarianz aufgegeben. Der Phasenraum ist der 6-dimensionale mu-Phasenraum mit Koordinaten q_i, p_i, i=1,2,3. Wir lassen ueberall die Zeit als Variable weg, nehmen also stationaere Verteilungen an. Die entsprechende Verallgemeinerung ist trivial. Seien dq_i, dp_i infinitesimale Intervalle um das Zentrum q_i, p_i. Wir kuerzen ab Dq = dq_1 dq_2 dq_3 Dp = dp_1 dp_2 dp_3 Das infinitesimale sechsdimensionale kartesische Phasenraumvolumen ist also Dq Dp. Boltzmann benutzt nun vier revolutionaere Ideen: 1. Die Stossmechanik wird durch Wahrscheinlichkeitsfunktionen beschrieben 2. Dq Dp sei infinitesimal, und enthalte doch beliebig viele Atome 3. Das Gas sei so duenn, dass nur Zweierstoesse betrachtet werden brauchen 4. Die Zweiteilchenfunktion F wird faktorisiert in Einteilchenfunktionen f*f Wir betrachten diese Ideen nun im Detail. Wir fuehren eine Verteilungsfunktion f(q,p,t) ein gemaess dN_1(q,p) = f(q,p) Dq Dp dN_1 ist die Zahl der Atome, die bei q_i, p_i in den Intervallen dq_i, dp_i liegen. Dq Dp ist das Phasenraumvolumen, f ist also die Phasenraumdichte. Wir fuehren gleich eine Zweiteilchenverteilungsfunktion ein, die Boltzmann - verfrueht! - als Quadrat der Einteilchenverteilungs- funktion f ansetzt: dN_2(q,p,p') = F(q,p,p') Dq Dp Dp' dN_2 ist die Zahl der Atompaare um den Ort q_i, von denen ein Atom den Impuls p_i, das andere den Impuls p'_i hat. Da sie am selben Ort sind, koennen sie prinzipiell miteinander stossen. Wieviele Stoesse gibt es? Da man gewoehnt ist, an Einzelteilchen zu denken, machte wohl auch Boltzmann zu schnell eine Faktorisierung der Stosspaare in ihre Stosspartner. Wir wollen seinen Schritt nachvollziehen, um dessen Ueberzeugungskraft zu sehen; und ihn dann korrigieren. Betrachte ein Teilchen im Intervall dq_i um q_i mit Impuls im Intervall dp_i um p_i. Es sieht einen Fluss j einkommender Teilchen mit Impuls p', also Teilchen pro Flaeche pro Zeit. Diesen kann man schreiben als j = n(q,p',t) |v' - v| mit Geschwindigkeit v = p/m. Der Betragstrich gibt die Relativgeschwindigkeit. n(q,p') ist die Dichte der Teilchen am Ort q_i mit Impulsintervall dp'_i um p'_i. Diese ist aber gerade n(q,p',t) = f(q,p',t) Dp' Die Zahl der von einem Teilchen gestossenen Teilchen ist j_st = j A(p,p'|P,P') wobei A eine effektive Stossflaeche ist, man nennt sie Wirkungsquerschnitt. A wird im allgemeinen von der gesamten Kinematik des Zweiteilchenstosses abhaengen. In der Gleichung sind p,p' die Impulse vor dem Stoss, P,P' die Impulse nach dem Stoss. Die Gesamtzahl der Stoesse ist die Zahl der Teilchen 1 multipliziert mit j_st, also dN_2_st = f(q,p,t) Dq Dp j_st dt = f(q,p,t) Dq Dp f(q,p',t) Dp' |v' - v|dt A(p,p'|P,P') = f(q,p,t) f(q,p',t) |v' - v|dt A(p,p'|P,P') Dq Dp Dp' dt macht aus dem Teilchenstrom (Teilchen pro Sekunde) eine Teilchenzahl. Boltzmann erhaelt also auf eine recht natuerlich erscheinende Weise ein Produkt f*f. Doch dies beinhaltet eine starke Annahme, genannt "molekulares Chaos". Die Zahl der Teilchen mit Impuls p' hat hier eine Verteilungsfunktion, die vom Impuls p des Stosspartners unabhaengig ist. Dies ist voellig entgegengesetzt zum mechanistisch- deterministischen Bild: Hier sind Impulse an benachbarten Orten stark korreliert. Etwas vereinfacht ausgedrueckt: Hat ein Teilchen mit Wahrscheinlichkeit f=1/2 den Impuls p, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Nachbar auch p hat, nach Boltzmann 1/4. Nach Newton sollte sie dagegen nahe 1 sein. Daher jetzt die Korrektur: Die Zahl der Stosspartner ist direkt gegeben durch F, mal die "Trefferquote" (Querschnitt mal Relativgeschwindigkeit mal Zeit). Letztere Groesse muss noch auf ein Volumen U normiert werden, damit die Einheiten stimmen. dN_2_st = F(q,p,p',t) |v'-v|dt A(p,p'|P,P')/U Dq Dp Dp' Also f(q,p,t) f(q,p',t) = F(q,p,p',t)/U Die Boltzmanngleichung ist eine Entwicklungsgleichung fuer f aufgrund von Stoessen. Die totale Zeitableitung im Phasenraum ist . . . f = f_t + q_i f_[q_i] + p_i f_[p_i] = . . = N_2_st|_ein - N_2_st|_aus Hier ist f_t die partielle Zeitableitung von f, und f_[q_i] die partielle Ableitung nach q_i. Es wird Summationskonvention benutzt. . N_2_st|ein bzw |aus ist die Rate der Stoesse, die in das Volumen hinein- und hinausfuehren. Diese Bilanzterme ergeben sich einfach aus den obigen Vorbetrachtungen. Wir haben (mit Integralzeichen $), . Dq f = Dq $ Dp' $ DP $ DP' [ - F(q,p,p') A(p,p'|P,P') |v-v'| + F(q,P,P') A(P,P'|p,p') |V-V'| ] / U Links wurde angenommen, dass Dq zeitlich konstant genommen wird, also keine Zeitableitung erfaehrt. Dq kuerzt sich also. Bei gegebenem Impuls p von Stosspartner 1 gehen die Integrale ueber alle Impulse des Partners 2 vor dem Stoss, und alle Impulse P und P' von Partner 1 und 2 nach dem Stoss. Natuerlich kann fuer gewisse Kombinationen von p,p',P,P' die Funktion A verschwinden, weil die Impulse kinematisch unmoeglich sind. Der erste Term in der Klammer […] ist die Zahl der Stoesse, die aus dem Phasenraumvolumen Dq Dp heraus fuehren; entsprechend das Minuszeichen. Der zweite Term gibt entsprechend die Zahl der Stoesse, die IN das Phasenraumvolumen bei q_i,p_i hinein fuehren. Wenn man nun einige starke Symmetrieannahmen macht wie Zeitumkehrinvarianz raeumlicher Isotropie und damit von Vertauschbarkeit "vor" und "nach" dem Stoss macht, dann kann man obiges vereinfachen zu . f = $$$ Dq Dp' dP' [ F(q,P,P') - F(q,p,p') ] |v-v'| A(p,p'|P,P') / U Die uebliche Boltzmanngleichung fuer f ergibt sich daraus durch f f = F/U. Boltzmann leitet nun durch eine geschickte Symmetriebetrachtung her, dass fuer die Groesse H = $$ Dq Dp f(q,p,t) ln f(q,p,t) gilt: . H < 0. Wir wollen und brauchen diese Herleitung nicht durchfuehren: Die Tatsache, dass wir eine Gleichung der Struktur . f = f f haben, ist fuer unsere Zwecke genug: diese Gleichung ist NICHT zeitumkehrinvariant: ersetzen wir t -> -t so geht die Gleichung ueber in . -f = f f Dies ist NICHT dieselbe Gleichung wie zuvor. Die Boltzmanngleichung verletzt damit die Zeitumkehrinvarianz, im totalen Gegensatz zur Newton-Einsteinschen Dynamik konservativer Systeme und zur Maxwellschen Elektrodynamik im Vakuum. Z.B. geht Newtons II. Axiom .. F = m x bei Zeitumkehr trivial in sich selbst ueber: Links steht keine Zeit, rechts steht sie "quadratisch". Interessanter ist die Betrachtung fuer die Hamiltongleichungen (ein Freiheitsgrad reicht) . q = H_p . p = - H_q Hier bedeutet Zeitumkehr t -> -t p -> -p denn wenn man einen Film rueckwaerts laufen laesst, dann bewegen sich alle Dinge in die umgekehrte Richtung! Obige Gleichungen gehen ueber in . -q = H_[-p] = - H_p . --p = - H_q also in sich selbst! Die Hamiltonfunktion ist eine Quadratform und als solche invariant unter den Transformationen. 5. Stunde am 15.11.12. Zeit als reine Anschauungsform bei Kant ============================================================== Kants Grundschema sieht in etwa wie folgt aus Erkenntnis | analytisch | synthetisch -------------|---------------|------------------------ a priori | 0 = 0 | 5+7 = 12 -------------|---------------|------------------------ a posteriori | - | Grippe <- Viren | | Schnupfen <- Bakterien analytisch: durch Begriffsanalyse kann man die Erkenntnis gewissen. Sie steckt schon im Begriff. Also alle Tautologien. synthetisch: echte Erkenntnis, die sich aus Bestandteilen "konstruktiv" konstituiert. a priori: vor aller Erfahrung a posteriori: durch Erfahrung Raum und Zeit sind Bedingungen der Moeglichkeit reiner Anschauung und damit synthetischer Erkenntnis a priori Naemlich: Raum -> Geometrie Zeit -> Arithmetik (Ordnung auf dem Zahlenstrahl) Was ist eine "Bedingung der Moeglichkeit?" eine Bedingung ist etwas, das notwendig ist, damit etwas geschehen kann: _ |_| (Quadrat = Modaloperator der Notwendigkeit) eine Moeglichkeit ist etwas kontingentes: <> ("Diamond" = Modaloperator der Moeglichkeit) Wie bekannt gilt: _ |_| = ~ <> ~ : etwas ist notwendig = es ist nicht moeglich, dass es nicht (der Fall) ist _ <> = ~ |_| ~ : etwas ist moeglich = es ist nicht notwendig, dass es nicht (der Fall) ist Also "Bedingung der Moeglichkeit" = _ |_| <> transzendent = das, was ueber uns hinaus ist (Gott usw.) und daher nicht erkannt werden kann transzendental = das, was der Erkenntnis zugrunde (voraus) liegt -- Heute wuerden wir auch hier, in Anlehung an Freud, Goedel u.v.a. sagen: -- und daher nicht erkannt werden kann Raum und Zeit sind also transzendental: sie liegen unserer Erkenntnis zugrunde. Durch sie erkennen wir so, wie wir erkennen, naemlich raeumlich und zeitlich, also in den Kategorien von Raum und Zeit. Nur durch transzendentale Formen reiner Anschauung ist synthetische Erkenntnis a priori moeglich. Kant stellte sich vor, dass die Mathematik und Teile der Physik synthetisch a priori sind: Geometrie: Winkelsumme 180 Grad im Dreieck Arithmetik: 7+5 = 12 Physik: zwei Dinge koennen nicht am selben Ort sein Die physikalischen Beispiele wirken heute stark veraltet; wenn man sich nicht ins Pauliprinzip und aehnliche hergeholten Analogien verrennen will. Der Wiener Kreis behauptete dagegen in der Nachfolge Machs: Mathematik handelt nur von analytischer Erkenntnis (a priori). Mathematik handelt nur von Tautologien. Ein Beweis besteht aus lauter selbstverstaendlichen, tautologischen Folgerungsschritten. Doch ist diese Ansicht NICHT universell. Immerhin hielt Goedel, also einer der versiertesten mathematischen Erkenntnistheoretiker und Mitglied des Wiener Kreises, noch in den 1950er Jahren die mathematischen Saetze NICHT fuer analytisch, sondern bescheinigte ihnen einen echten Erkenntnisgewinn. Goedel stellt fest: es koennte tatsaechlich einen endlichen Automaten geben, der alle erforderlichen Axiome der gesamten Mathematik ausrechnet. Und doch gaebe es ein Erkenntnisproblem fuer die Menschen: sie koennten einen korrekten von einem falsch arbeitenden Axiomenautomaten nicht unterscheiden: denn man kann die Konsistenz eines Axiomensystems nach Goedel nicht innerhalb des Axiomensystems feststellen. Es bleibt also immer unklar, ob aus den neu hinzukommenden Axiomen nicht doch auch falsche Schluesse folgern koennen. Mathematische Erkenntnis ist also in einem wesentlichen Sinn unabgeschlossen und offen. Und damit erscheint sie - wenn die Analogie sinnvoll ist - NICHT im Kantschen Sinne analytisch, also trivial. Es wurde in der Stunde dann zum Beispiel diskutiert, inwieweit eine mathematische Erkenntnis (mittels eines Beweises), die man jetzt schon haben koennte, aber noch nicht hat, weil niemand die Arbeit getan hat, analytisch ist oder nicht. Denn sie ist jetzt nicht da, also gibt es einen Erkenntniszuwachs, wenn sie da ist; also ist sie nicht analytisch. Aber umgekehrt koennte man sie auch jetzt schon haben, also ist sie analytisch. Dann wurde diskutiert, ob 7+5=12 (synthetisch) nicht identisch ist mit 0=0 (analytisch). Und es wurde diskutiert, ob die Physik nicht in Wahrheit auch "analytisch a priori" ist statt, wie gemeinhin angenommen (experimentelle Wissenschaft!) "synthetisch a posteriori". Die Aktualitaet von Kant zeigt sich am Beispiel des Artikels "Two Dogmas of Empiricism" von Willard Quine (laut Saul Kripke wohl der wichtigste philosophische Aufsatz des zwanzigsten Jahrhunderts), wo die Polaritaet von analytisch und synthetisch zugunsten eines semantischen Netzes aufloest wird. Axiome und ihre Schlussfolgerungen sind Teil eines Netzes und die Unterscheidung, was primaer und was abgeleitet ist, ist teils beliebig. 6. Stunde am 22.11.12. (nur 60 Min.) Kants Zeitantinomie ======================================================== Als Nachtrag zum letzten Mal wurde gesagt: das Thema dieser Vorlesung, Zeitbewusstsein, wurde also erstmals nicht von Husserl gestellt (der aber das Wort erfunden hat), sondern von Kant. Naemlich in der transzendentalen Aesthetik: fuer ihn ist Zeit eine reine Anschauungsform, die transzendentale Erkenntnis und damit synthetische Erkenntnis a priori moeglich macht. Ihr "Aussenwesen" ist nicht Thema. Kants originelle Idee bei den Antinomien ist: - bringe den bestmoeglichen Beweis fuer Behauptung A - bringe den bestmoeglichen Beweis fuer Behauptung ~A Dann sind die Beweise gar keine Beweise. Indem aber beide Beweise gleich gut (oder schlecht) sind, ist damit klar, dass man ueber A gar nichts beweisen kann: A ist ein falsch gestelltes Problem. Die Vernunft kann ueber dieses Thema nichts aussagen. Dieser Gedanke ist ein frueher Vorlaeufer von Wittgensteins Auffassungen ueber falsch gestellte Fragen und Dinge, ueber die man nicht reden kann. Interessanterweise ist jeder der beiden Kantschen Beweise ein ad-adsurdo-Beweis: will man A beweisen, nimmt man ~A an und gelangt zu einem Widerspruch. Warum kann Kant das nicht gleich zu einem positiven Beweis von ~A umformulieren? Die These A soll also heissen: Die Zeit hat einen Anfang. Um die These zu beweisen, nehmen wir ihr Gegenteil an und widerlegen es. Wir nehmen also an, die Zeit habe keinen Anfang. Dann ist zum gegenwaertigen Zeitpunkt eine unendliche Zeit vergangen. Also unendlich viele Intervalle einer bestimmten Laenge. Also hat man von minus Unendlich bis "Null" (Jetzt) gezaehlt. Das ist aber so wenig moeglich, wie von Null (Jetzt) bis Unendlich zu zaehlen. Also kann keine unendliche Zeit vergangen sein. Als Antwort auf dieses Argument sagten wir, dass die Cantorsche Ordinalzahlidee diese Unmoeglichkeit "nach Unendlich zaehlen" womoeglich beseitigt. Zahlen werden hier als Mengen dargestellt. Mengen sollen keine "Urelemente" als Objekte enthalten, sondern einfach nur andere Mengen. Womit koennen wir dann anfangen? Mit der leeren Menge. Die leere Menge (geschrieben als '-' fuer 'nichts') ist die Null, - = 0 Die Eins ist die Menge, die genau ein Element enthaelt. Dies kann nur die leere Menge sein, {-} = 1 Die Menge "Zwei" soll also zwei Elemente enthalten. Da zweimal die Null nur ein Element ist, gibt es wieder nur einen Weg: {-,{-}} = 2 Also ist die Drei {-,{-},{-,{-}}} = 3 Oder etwas einfacher {0} = 1 {0,1} = 2 {0,1,2} = 3 usw. Man sieht, dass die "Mengenlaenge" links exponentiell anwaechst. Tatsaechlich bildet man links ja auch die Potenzmenge des Vorgaengers: jede Zahl ist Potenzmenge der Vorgaengerzahl. Diese Zahlen sind Ordinalzahlen, Ordnungszahlen wie erster, zweiter, dritter. Man zaehlt, wieviele (Zahlen, Leute in der Warteschlange) "vor einem" sind. Dies im Gegensatz zu den Kardinalzahlen, die die "Groesse" einer Menge messen. Die obige Konstruktion stammt von John von Neumann. Nun die Ueberraschung: naiv betrachtet man N einfach nur als Menge all dieser oben definierten Zahlen. Man schreibt also sinngemaess {0,1,2,3,...} \_____ _____/ \/ N Doch tatsaechlich sagt die obige Konstruktion {0,1,2,3,...} = N N IST SELBST EINE ZAHL! Und damit kann man nun schreiben 0,1,2,3...,N Dies hat eine voellig andere Qualitaet als 0,1,2,3,... denn letztere Zeile extrapoliert nur, wohin sie nie gelangen kann. Die Zeile zuvor dagegen kommt an ein Ziel: N. (Die Punkte interpolieren nur die Zwischenschritte, die bis zu diesem Ziel noetig sind.) Die mathematische Theorie bescheibt N als eine Limeszahl. Dies bedeutet, dass sie kein Nachfolger ist wie alle anderen Zahlen zuvor. N ist die erste Limeszahl; von denen es - nach Cantor - unendlich viele geben muss. Uns genuegt als saloppe Antwort auf Kants - auch nicht mehr als beilaeufig zu betrachtendes - Argument: man kann ein wohldefiniertes Konzept angeben, wie man bis nach Unendlich zaehlt. 7. Stunde am 29.11.12. Ordinalzahlen ==================================== Die Vorlesung gab einen Ueberblick ueber die mathematische Formulierung von Ordinalzahlen. Ordnungsrelationen wurden eingefuehrt, Initialsegmente, und der Begriff des Nachfolgers einer Zahl. Limeszahlen sind Zahlen, die nicht Nachfolgerzahlen sind. Die erste Limeszahl ist N, die Menge der natuerlichen Zahlen. - Die Vorlesung wird hier nicht zusammengefasst, da sich das Material in jedem modernen Buch ueber Mengenlehre findet. 8. Stunde am 06.12.12. --- ========================== Ausgefallen wegen Krankheit 9. Stunde am 13.12.12. Vermischtes ================================== Die Stunde brachte eine Zusammenfassung des bisherigen Materials und einige Marginalien und weiterfuehrende Bemerkungen: Zaehlen ins Unendliche: von omega+1 bis omega**...**omega (omega-mal). Die Kardinatitaet der letzteren Menge ist immer noch kleiner als die des Kontinuums. Zitate von Kant, Hegel, Heidegger ueber das "Erreichen des Unendlichen". Leibniz' RELATIONALE Auffassung von Raum (und Zeit) gegenueber der Newtonschen "absoluten". 10. Stunde am 20.12.12 ====================== nicht protokolliert 11. Stunde am 03.01.13. Leibniz' Monadologie ============================================ Der Kern der Leibnizschen Metaphysik ist seine Monadologie. Er vertritt hier die radikale Auffassung, dass es Zeit auf der fundamentalen Seinsebene nicht gibt. Fuer die "alten Griechen" waren Atome: - Objekte im leeren Raum - die zusammenstossen - und nur als Verband Eigenschaften entwickeln - sind alle identisch Leibniz widerspricht allen diesen Vorstellungen. Seine Monaden - sind "jenseits" von Zeit und Raum - wechselwirken nicht miteinander - sind jeweils jede die ganze Welt - sind wohlunterschiedene Individuen Jede Monade zeigt eine Perspektive der ganzen Welt. Da der Leibnizsche Text - sehr kurz ist (90 Absaetze) - sehr gut verfuegbar ist (Reclam) wird hier auf weitere Zusammenfassung verzichtet. 12. Stunde am 10.01.13 --- ========================== ausgefallen wegen Krankheit 13. Stunde am 17.01.13 --- ========================== ausgefallen wegen Krankheit